Über La Paz fahren wir Richtung Titicacasee. Aber wir kommen nicht sehr weit. Vor Achacachi erwartet uns unsere erste bolivianische „huelga“, d.h. unser erster bolivianischer Streik. Die Hauptstraße ist mit einer Barriere aus Steinen und Bauschutt gesperrt und eine Gruppe aufgebrachter bolivianischer Männer blockiert den Weg.
Als wir uns mit dem Auto nähern, fliegen schon die ersten Steine in unsere Richtung…
(Streiks sind in Bolivien ein gebräuchliches Mittel, um sich wirksam Gehör zu verschaffen. Das Problem hier in Achacachi ist der Bürgermeister, der Gelder veruntreut hat und die Interessen seiner Gemeinde mit Füßen tritt. Da er nicht zurücktreten will, ist die Wut der Bürger zurecht groß! Wie wir später erfahren werden, ist Achacachi für seine rabiaten Streiks (und diverse Formen der Selbstjustiz…) berüchtigt.)
Also, wir steigen nichtsdestotrotz aus dem Auto aus, signalisieren, dass wir den Streik respektieren und uns eigentlich nur informieren wollen, ob es nicht vielleicht eine Möglichkeit gibt, den Streik zu umfahren, weil wir ja weiter nach Sorata wollen. Und da Bolivianer im Grunde ihres Herzens wirklich nette Menschen sind, bekommen wir auch irgendwann einen entsprechenden Hinweis. Wir steigen wieder ins Auto, fahren einen Umweg durchs Grüne, sind auf den letzten Metern vor dem Ortseingang Achacachi, freuen uns schon, dass alles gut geklappt hat und was sehen wir, als wir um die Kurve kommen? Genau, die nächste Blockade!
Na super! Also das Ganze wieder von Vorne: wir steigen aus, erklären wo wir her kommen, wo wir hin möchten, dass wir über diese Route geschickt wurden, fragen, ob es nicht eine Alternativstrecke gäbe usw…
Nach einem kurzem Smalltalk wird uns wieder eine Umgehung genannt. Auf unsere kritische Nachfrage, ob da nicht doch wieder andere Streik-Kollegen stehen würden, erfolgt großes Gelächter. Nein, diesmal wäre das garantiert nicht so!
Und es stimmt. Wir können Achacachi tatsächlich (allerdings durch einen Fluss, s.u.) umfahren.
Auf unserem weiteren Weg treffen wir immer wieder auf Fahrzeuge, die uns zu aktuellen Streikposten und Umgehungsmöglichkeiten befragen, da sie auch an Achacachi vorbei müssen.
Und weiter geht´s.
Nach einer wunderschönen (aber stundenlangen) Serpentinenfahrt kommen wir in Sorata, am Fuße des Illampu (6368 m) an.
Das koloniale Dorf, ein ehemaliger Goldumschlageplatz, liegt auf einer angenehmen Höhe von 2650m. Früher trafen sich hier Goldsucher, Freiheitskämpfer und Kautschukbarone, heutzutage v.a. Bergwanderer und Bergsteiger.
Wir kommen etwas außerhalb des Dorfes im „Altai Oasis“ bei Jimmy und Roxanna unter.
Im Garten stehen Feigen-, Papaya-, Tumbobäume, überall blühen Fuchsien- und Hibiskussträucher, Kolibris fliegen von Blüte zu Blüte, die Vögel zwitschern, um uns herum hohe grüne Hügel, im Hintergrund blitzt bei klarem Wetter der schneebedeckte Illampu auf… – wirklich eine friedliche, grüne Oase!
Überraschenderweise (für uns) spricht Jimmy deutsch. Er erzählt uns, dass er als Deutsch-Bolivianer in Bolivien geboren und aufgewachsen sei. Als Jugendlicher ist er mit seinen Eltern nach München zurückgekehrt, hat dort die Schule beendet, studiert, gearbeitet. Die Wende in seinem Leben kam durch einen zweiwöchigen Urlaub in Bolivien: er hat sich verliebt und kurzentschlossen sein gesamtes Leben in Deutschland zurückgelassen, um in Bolivien eine neue Existenz aufzubauen, Familie zu gründen und seinen Hippie-Traum zu leben. Das sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen. Und immerhin gibt es das „Altai Basis“ jetzt bereits seit 35 Jahren!
Jimmy erzählt uns, dass das Dorf zu der Zeit, als sie hier anfingen, halb so groß gewesen sei und man in den ersten zehn Jahre das Wasser aus dem Fluss noch trinken konnte. Mittlerweile sei das leider nicht mehr möglich! Zum Einen, gäbe es hier viele Goldminen, die ihre Chemikalien in den Fluss ablassen und zum Anderen, gingen die Bolivianos – sagen wir mal so – etwas sorglos mit ihrer Umwelt um.
(Diese Beobachtung können wir leider bestätigen: Müll wird oft in die Gegend geworfen und der Ölwechsel bzw. das Waschen von Autos erfolgt gerne auch mal im Fluss. Obwohl überall Verbotsschilder stehen und Pachamama (Mutter Erde) eine große Rolle in der Tradition der Indegenas spielt, ist das Problem Umweltverschmutzung offenbar nur sehr schwer in den Griff zu bekommen!)
Zum Thema „Evo – Kunstrasenplätze -Telefericos“ meint er nur, dass er mal die Gelegenheit gehabt habe, Evo persönlich bei einem Besuch in Sorata zu fragen, warum er das Geld nicht in Krankenhäuser und Trinkwasser stecke. Die Antwort war: „Das ist ganz einfach: ich frage das Volk was es will, und wenn die Mehrheit des Volkes einen Kunstrasenplatz will, bekommt es einen Kunstrasenplatz!“
Da Sorata ein idealer Ausgangspunkt für Wanderungen ist, besuchen wir am nächsten Tag die Höhle „San Pedro“. Laut Sagen der Aymara, eine der größten Indegena-Gruppen Boliviens, soll der dazugehörige See eine direkte Verbindung zum Titicacasee haben.
Nach ein paar Tagen verlassen Sorata wieder und fahren über Achacachi weiter nach Copacabana, immer am Ufer des Titicacasees entlang.
(Der Streik in Achacachi wurde übrigens nach 4 Tagen beendet und der Bürgermeister ist letztendlich vor der Wut seiner Bürger nach La Paz geflohen…)
In Tiquina, der schmalsten Stelle des Sees setzen wir mit einer klapprigen Fähre zur Halbinsel Copacabana über. Der Titicacasee ist mit seinen 8300 Quadratkilometern übrigens etwa 15 mal so groß wie der Bodensee!
Die Bemerkung des Fährmanns, dass der See hier 80m tief ist, trägt nicht wirklich zu unserer Beruhigung bei.
Das bolivianische Copacabana, heute ein wichtiger (katholischer) Wallfahrtsort, blickt auf eine über 3000jährige Geschichte als Zeremonial- und Kultzentrum zurück.
Nach dem Einfall der Spanier vermischte sich hier der inkaische mit dem christlichen Glauben, was auch heutzutage noch vielerorts, v.a. auf dem stadtnahem „Cerro Calvario“ (Kalvarienberg) zu beobachten ist.
In der Basilika „Virgen de la Candelaria“ (Mariä Lichtmess) befindet sich neben der Jungfrau von Copacabana auch die wundertätige schwarze Madonna, deren Bildnis 1925 vom Vatikan heilig gesprochen wurde und zu der jährlich Tausende Gläubige pilgern.
(Die Jungfrau von Copacabana hat übrigens dem brasilianischen Strand seinen Namen gegeben und nicht umgekehrt.)
Wir landen mit unserem Auto im „Las Olas“.
Auch dieser Ort ist perfekt zum Verweilen: im Garten grasen Alpakas, zwischen Säulen sind bunte Hängematten gespannt, Liegestühle überall, es blühen Fuchsien und Trompetensträucher. Über die grüne Anlage verteilen sich originell gebaute Cabanas, teilweise in Schneckenform, mit Fensterfront zum See.
Und Martin, der Besitzer und Gestalter dieses schönen Fleckchens ist eine Seele von Mensch! Ursprünglich kommt er aus dem Ruhrgebiet, hat aber in Bolivien Familie gegründet und ist seit über 20 Jahren hier sesshaft. Er ist ein absolutes Sprachtalent und wechselt ohne mit er Wimper zu zucken fließend zwischen Französisch, Spanisch, Englisch und Deutsch!
Aber wir sind nicht zum Spaß hier.
Wir wollen die bolivianische Autoversicherung, die „Cha´lla“ abschließen.
Dazu bedarf es aber zuerst noch einiger Vorbereitung. Wohlüberlegt wählen wir Folgendes aus:
zwei rosa-rot-weiße Gladiolensträuße, eine gehäkelte Bordüre in bolivianischen Nationalfalben (gelb, grün, rot), Blütengirlanden in pink, ein kleines Schilfboot mit Blumen und lose, weiße Rosenblätter zum Werfen. Es fehlen noch bunte Plastikbommel und zum krönenden Abschluss befestigen wir noch eine Rosengirlande am Dach.
Ihr merkt schon, das ist keine gewöhnliche Autoversicherung:
bei der Cha´lla werden Fahrzeuge von einem katholischen Priester (gegen ein kleines Entgelt) vor der Basilika mit Weihwasser gesegnet. Man erhofft sich dabei, dass die Jungfrau von Copacabana Auto und Insassen ein Jahr lang vor Unfällen und Pannen schützt. Und da es sich dabei um eine feierliche Zeremonie handelt, werden die Autos vorher festlich geschmückt.
Explodierende Böller und Bierdusche dürfen auch nicht fehlen.
Dafür sorgen unsere netten Cha´lla-Nachbarn, die uns vorher noch eine bunte bolivianische Schleife als Geschenk an die Stoßstange binden und mit denen wir die Segnung gemeinsam feiern.
Nach der Zeremonie parken wir unseren geschmückten und gesegneten Cruiser wieder im „Las Olas“.
Nicht nur uns gefällt die Blumendeko – auch die Alpakas haben sie zum Fressen gern… !
Am nächsten Tag geht es weiter.
Wir schauen uns die Halbinsel Yampupata an und besuchen das Dorf Pukara, von wo aus wir einen schönen Blick auf die „Isla de la Luna“ haben.
Anschließend fahren wir nach Sicuani zu Hilario Pay Quispe und seiner Familie, seines Zeichens Schilfbootbauer. Hier können wir unser Auto für ein paar Nächte sicher stehen lassen, wir wollen nämlich zur (autofreien) „Isla del Sol“.
Aber zuerst verbringen wir einen Tag bei Hilario und Familie und beobachten das Landleben:
Um das Auto herum laufen Hühner, ab und zu treibt jemand ein paar Schweine oder Kühe vorbei, die Vögel zwitschern… alle paar Stunden mal ein Fahrzeug… der See glitzert friedlich vor sich hin. Alles ist ruhig.
- Hilarios Frau flickt das Fischernetz. Hilario zeigt uns seine Postkartensammlung.
- Hilarios Frau geht auf´s Feld und bringt einen Sack mit Quinoa nach Hause. Hilario sitzt vorm Haus und schaut, wer so vorbeikommt.
- Hilarios Frau kocht Futter für die Schweine. Hilario füttert die Schweine.
- Hilarios Frau geht auf´s Feld und erntet Kartoffeln. Hilario schaut nach, ob sie alles richtig macht.
- Hilarios Frau kocht das Abendessen. Hilario plauscht mit seinem Bruder.
- Hilarios Frau flickt die Wäsche. Hilario guckt Fernsehen.
Diese Arbeitsteilung ist für Bolivien ziemlich typisch …
Am nächsten Morgen werden wir um 4:00 von einem lauten Frühgebet geweckt. Es ist Hilarios Frau, die bereits wieder ihren Tag beginnt. Wir sitzen noch beim Frühstück, als sie mit frisch gefangenen Fischen vom See zurückkommt – diese Frau ist unglaublich!
Da wir zur Isla del Sol fahren, macht Hilario das Motorboot klar.
Mit dabei sind seine Frau, sein Sohn und zwei Nachbarinnen. Sie wollen auf einem Acker, der sich auf der anderen Seite der Halbinsel befindet, Kartoffeln ernten.
Bevor es richtig los geht, opfert Hilarios Frau dem See ein paar Cocablätter, um die Geister des Sees gnädig zu stimmen und spricht dazu ein kurzes Gebet. Dann steckt sie sich selbst noch ein paar in die Backe…
Im Südteil der Insel angekommen, wandern wir bei bestem Wetter los.
Die Sonne scheint, es ist warm, wir haben eine gute Sicht auf die Cordillera Real, die sich mit ihren schneebedeckten Gipfeln über dem dunkelblauen See erhebt.
Es fühlt sich fast so an, als würden wir auf einer Mittelmeerinsel wandern … allerdings ist das Wasser hier weniger als 10 Grad warm und die Lufttemperaturen liegen (v.a. nachts) ebenfalls oft weit darunter.
Die Isla del Sol ist die größte Insel im Titicacasee und galt den Inkas als Ursprungsort ihrer Kultur.
Auf dem knapp 4000m hoch liegendem Eiland gibt es neben Inkastätten aus dem 12.- 16. Jahrhundert sogar noch einige Ruinen und terrassierte Hänge, die der Tiwanakuzeit (1000 v. Chr. – 1000 n. Chr.) zuzuordnen sind.
Wir durchqueren die Insel von Süden nach Norden und übernachten im nördlichen Cha´llapampa.
Als wir am nächsten Morgen aufstehen, sieht der Himmel ziemlich grau aus.
Nicht nur das. Es weht ein ordentlicher Wind und es fängt an zu hageln.
Wir sind aber trotzdem optimistisch, vertrauen darauf, dass das Wetter bald besser wird und setzen unseren Plan, auf der Insel von Norden nach Süden zurückzuwandern in die Tat um.
Aber Pustekuchen!
Nach mehreren Stunden Wanderung auf knapp 4000 m kommen wir klatschnass bis auf die Unterwäsche (das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint!) und tiefgefroren (das auch nicht!) im Südteil der Insel an. Und es gibt keinen einzigen Ort mit Heizung oder Ofen… und Hilario holt uns erst in zwei Stunden mit dem Boot ab!!!
Aber wir haben Glück im Unglück.
Die Sonne kommt raus. Und da Südamerika ein kalter Kontinent mit heißer Sonne ist, heizt sie in kurzer Zeit ordentlich ein.
Wir gehen ins nächstbeste kleine Restaurant, nasse Klamotten aus, Schlafanzüge an und Alles zum Trocknen über die Mauer.
Anschließend trinken wir Tee, essen eine heiße Suppe und schon sieht die Welt wieder ganz anders aus.
Allmählich können wir auch wieder fast alle Finger bewegen.
Nach einer Weile ziehen wir unsere (fast) trockenen Kleider wieder an und wandern zum vereinbarten Treffpunkt.
Hilario holt uns pünktlich ab, und als wir spätabends wieder im „Las Olas“ ankommen, den Kaminofen (!) anmachen können und mit Blick auf den Titicacasee unter der warmen, weichen Bettdecke liegen, fühlen wir uns wie im Himmel!!!